Prof. Dr. Giovanni Maio: "Wir muessen die Menschen als grundsaetzlich verletzliche Wesen sehen

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Prof. Dr. Giovanni Maio: "Wir müssen die Menschen als grundsätzlich verletzliche Wesen sehen.“


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"Die Medizin hat nicht erkannt, dass jeder Mensch einzigartig ist."

Prof. Dr. Giovanni Maio ist ein deutscher Mediziner und Philosoph und Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Er berät auch die Bundesärztekammer und schreibt Bücher, die sich mit den ethischen Grenzen der Ökonomisierung und Technisierung der Medizin befassen.

 

Prof. Maio plädiert im Wesentlichen für eine stärkere Berücksichtigung der psychosozialen Aspekte von Krankheit. Während der COVID-19-Pandemie war Prof. Maio auch in den Medien, weil er die repressiven Maßnahmen der Regierung kritisierte, sich gegen die Impfpflicht aussprach und für mehr Toleranz gegenüber den verschiedenen Meinungen zur Impfung plädierte. Er spracht sich dezidiert gegen eine moralische Verurteilung und Ausgrenzung von Menschen aus.

 

In seinem neuesten Buch bringt er seine Philosophie auf den Punkt. In "Ethik der Verletzlichkeit" zeigt er, dass Verletzlichkeit und Angewiesenheit der Menschen unabdingbar zum Menschen dazugehören. Prof. Maio plädiert dafür, die Verletzlichkeit als Wesensmerkmal des Menschen anzuerkennen und in der Verletzlichkeit nicht nur das Bedrohliche, sondern zugleich eine Ressource zu sehen und auch als Chance, sich der Schönheit der Zerbrechlichkeit zu öffnen. Er ist auch besorgt über die Ausbildung junger Ärzte, über den zunehmenden Mangel an Hausärzten und den allgemeinen Abbau von Krankenhäusern.


Unserer Meinung nach verdient das Buch von Prof. Maio „Ethik der Verletzlichkeit“ in der heutigen, zunehmend gespaltenen Gesellschaft große Aufmerksamkeit.

27. Februar 2024

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Interview Directory 

IN FOCUS

Name: Prof. Dr. Giovanni Maio

Ausbildung:  Studium der Medizin und Philosophie in Freiburg, Straßburg und Hagen

Beruf: Mediziner und Philosoph; Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg

Bücher: Vertrauen in der Medizin“, “Den kranken Menschen verstehen“, Von Angesicht zu Angesicht", Ethik der Verletzlichkeit" und viele mehr

Prof. Maio, was ist für Sie ein guter Arzt?


Prof. Maio: Ein guter Arzt muss verschiedene Welten zusammenbringen. Er muss etwas von der Laborwelt wissen und gleichzeitig etwas von der Lebenswelt des Patienten verstanden haben. Er muss die Krankheit erkennen und gleichzeitig das Kranksein verstehen. Er muss den Körper mit dem zusammenbringen, was den anderen Menschen wirklich bewegt. Ein Mensch, der krank wird, hat nicht nur einen kranken Körper. Sein ganzes Leben verändert sich. Ein Arzt, der versucht, einen Körper zu reparieren und kein Verständnis für die Probleme des Lebens hat, kann nicht helfen.

 

Was hat Sie dazu bewogen, die Praxis zu verlassen und sich auf Ihre Rolle als Medizinethiker zu konzentrieren?


Ich war lange Zeit Internist und diese Zeit hat mich für den Rest meines Lebens geprägt. Schon als junger Mensch wollte ich über Medizin schreiben, aber ich wollte sie erst einmal richtig kennen lernen. Ich habe Medizin studiert, weil ich mich für die Probleme interessiere, die das Kranksein aufwirft, aber diese grundlegendere Perspektive, was das Kranksein für den Menschen bedeutet und welche existentiellen Fragen damit aufgeworfen werden, wurden im Medizinstudium gar nicht thematisiert, sodass es das einseitige Medizinstudium war, das mich umso entschiedener zur Philosophie trieb. Jetzt sehe ich meine Aufgabe darin, Medizin und Philosophie neu zusammenzuführen.

 

"Plötzlich ist ein Mensch krank, er fragt sich, wer bin ich jetzt überhaupt, was wird aus mir? Hat alles noch einen Sinn? Er befindet sich in einer Situation der verschärften Verletzlichkeit.“


Die Hauptthese Ihres neuen Buches "Ethik der Verletzlichkeit" ist es, ein Korrektiv zu setzen und die Verletzlichkeit als grundlegende Eigenschaft des Menschseins in den Mittelpunkt der Medizin zu stellen. Sie schreiben, dass Sie Verletzlichkeit vor allem als Ressource sehen?


Mit diesem Buch, das mir sehr am Herzen liegt, möchte ich betonen, dass wir als Menschen unweigerlich nicht ohne andere existieren können, weil wir ohne andere nicht zu uns selbst finden können. Dadurch dass wir auf andere angewiesen sind, sind wir verletzlich. Andere können uns nicht nur verletzen, weil sie etwas Böses wollen, sondern auch dadurch, dass sie uns einfach ignorieren oder gleichgültig sind. Das war der Grund für mich, die Verletzlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Was für einen gesunden Menschen gilt, gilt für den Kranken umso virulenter. Plötzlich ist ein Mensch krank und er fragt sich: Wer bin ich jetzt überhaupt noch, was wird aus mir? Hat das alles noch einen Sinn? Er befindet sich in einer Situation der verschärften Verletzlichkeit.

 

Die Medizin will nur reparieren und sieht nicht wirklich die existenzielle Not des Patienten. Diese Menschen befinden sich in Lebenskrisen, und mit "Ethik der Verletzlichkeit" möchte ich betonen, dass wir uns mehr für die Nöte der anderen interessieren müssen. Meine Hoffnung ist es, mit dem Buch zumindest einige Menschen davon zu überzeugen, dass wir hilfsbedürftigen Menschen nur dann wirklich helfen können, wenn wir ein Gemeinschaftsgefühl mit ihnen entwickeln. ich habe das Verbindende der Menschen untereinander herausgearbeitet, weil wir nur in diesem Bewusstsein ein gutes Leben führen können. Wir Menschen sind alle verletzlich, und es ist die geteilte Verletzlichkeit, die uns alle verbindet und uns ein Zusammengehörigkeitsgefühl bescheren kann.

 

“Es war nicht die Pandemie der Ungeimpften,
wie die Politiker sie bezeichnet hatten.“

 

Sie schreiben weiter, dass die Coronavirus-Pandemie Ihnen das Thema Verletzlichkeit besonders bewusst gemacht hat und dass Sie davor gewarnt  haben, Menschen, die Angst vor dem Impfstoff haben, auszugrenzen.


Corona hat uns vor Augen geführt, dass jeder Mensch verletzlich ist, und wir hätten uns dadurch noch mehr miteinander verbunden fühlen können. Aber es kam anders. Die Medien haben eine allgemeine Stimmung der Angst geschürt, indem sie sich stetig an einer Rhetorik der Bedrohung abgearbeitet haben. Aus der so geschürten Angst suchte man nach Schuldigen und Bösewichten. Auf der Suche nach dem Schuldigen fiel den Menschen nichts anderes ein, als die Nichtgeimpften als die Ursache allen Übels zu brandmarken. Als dann einzelne Politiker anfingen, von einer Pandemie der Ungeimpften zu sprechen, war das Ausdruck und Resultat eines Auseinanderdriftens der gesamten Gesellschaft.


Ich fand das unmenschlich, nicht nur, weil jeder selbst entscheiden können muss, ob er geimpft werden will oder nicht. Sondern weil es nicht richtig ist, ganze Gruppen an den Pranger zu stellen. Die Menschen wurden moralisch verurteilt, weil es an Toleranz und Klarsichtigkeit fehlte.

 

Wie beurteilen Sie den Umgang der Medien mit der Pandemie?


Schon damals haben alle Medien das Gleiche gesagt. Die Medien haben ihren Aufklärungsauftrag vernachlässigt und haben es sich stattdessen zur Aufgabe gemacht, die Bevölkerung zu erziehen. Das war ein grober Fehler. Ihr Auftrag ist nicht die Erziehung, sondern die Aufklärung. Sie hätten Gegenstimmen zulassen müssen. Die Effektivität und Unbedenklichkeit der Impfung hätte relativiert werden müssen. Insofern hatte es etwas von Propaganda. Wir müssen uns in Zukunft besser gegen einseitige, moralisierende Berichterstattung wappnen.

 

"Der Moment der Bedrohung öffnet uns die Augen für die Schönheit des Zerbrechlichen."

 

Besonders gut gefallen hat mir Ihre These, die Verletzlichkeit als eigenständige Ästhetik zu erkennen und sich der Schönheit der Zerbrechlichkeit zu öffnen.



Wir gehen ganz achtlos an den wesentlichen Dingen des Lebens vorbei, weil sie uns selbstverständlich vorkommen. Wenn eine bestimmte Sache zu zerbrechen droht,  erkennen wir, was wir an ihr haben. Dann sehen wir die Schönheit, an der wir sonst vorbeigehen. Der Moment des Bedrohtseins öffnet uns die Augen. Das verstehe ich unter der Schönheit der Fragilen.


Man lebt mit Menschen zusammen, und wenn sie krank werden, erkennt man, was man an ihnen hat. Ich würde mir wünschen, dass wir einen stärkeren Sinn für die Kostbarkeit des scheinbar Selbstverständlichen entwickeln. Jeder Mensch hat eine einzigartige Biografie, die uns so viel zu sagen hat.

 

In Ihrem Buch heißt es weiter, dass die Globalisierung und die zunehmende Interdependenz sogar zu einer Zunahme von Strukturen der Verwundbarkeit geführt haben. Können Sie dafür einige Beispiele nennen?


Als während des Coronavirus der Gütertransfer nicht mehr möglich war, wurde den Menschen bewusst, wie abhängig sie geworden waren. Der Wahn der Globalisierung der Märkte wurde zu Recht in Frage gestellt. Je komplexer die Welt wird, desto verletzlicher werden wir. Wir müssen dafür sorgen, dass solche Abhängigkeiten minimiert werden, weil wir dadurch zu verletzlich werden. In der Medizin haben wir gesehen, wie wertvoll Krankenhäuser sind. Die Menschen sagten sich: Wenn wir jetzt kein Krankenhaus haben, wird meine Großmutter an dem Coronavirus sterben. Corona hat gezeigt, wie wichtig das ist. Aber als es vorbei war, haben die Politiker als erstes darüber nachgedacht, wie wir 30 Prozent der Krankenhäuser schließen können. Jetzt sollen die Betten dezimiert werden und dies obwohl es immer weniger, niedergelassene Ärzte und Hausärzte gibt. Die Menschen sind unfähig, aus Katastrophen zu lernen.

 

Warum, glauben Sie, gibt es weniger Hausärzte?


Viele junge Leute wollen die Verantwortung nicht übernehmen, auch wegen der Risiken und der enormen Investitionen. Viele Praxen werden geschlossen oder von Konsortien aufgekauft. Viele dieser aufgekauften Praxen praktizieren keine ganzheitliche Medizin, sondern sie operieren nur noch. All dies führt zu einem Rückgang der echten Medizin. Eine Fehlentwicklung, denn die Menschen haben nicht erkannt, dass eine gute ärztliche Versorgung für ein gutes Leben der Menschen notwendig ist.

 

"Die Medizin hat nicht erkannt, dass jeder Mensch einzigartig ist."


 

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sprachen Sie auch darüber, dass Sie für einen Wechsel von der Krankenhaus- zur Beziehungsmedizin sind. Wie kann man sich das vorstellen?


Das ist genau der Grund, warum ich das Buch geschrieben habe. Mir ist es wichtig, den kranken Menschen nicht als Kunden zu sehen, der sich in der Medizin etwas kauft. Vielmehr hoffen die kranken Menschen, dass sich jemand um sie kümmert. Das Sichkümmern hat mit Sorge zu tun. Wir müssen die Menschen als grundsätzlich verletzliche Wesen sehen, denn nur wenn wir sie in ihrer Verletzlichkeit sehen, erkennen wir sofort, dass wir darauf mit einer Kultur der Sorge reagieren müssen und aufgefordert sind, uns verantwortlich zu zeigen für das Wohl der Schwächsten.

 

“Verletzlichkeit ist nicht nur eine Beschreibung, sie ist ein Appell.“

 

Verletzlichkeit ist nicht nur eine Beschreibung, sie ist ein Appell, ein sehr subtiler und sanfter Appell. Der Appell, der der Verletzlichkeit entspringt, lautet: Jeder Mensch ist verletzlich und wir sind alle aufgerufen, in jedem verletzlichen Menschen etwas Besonderes zu sehen, etwas, das unsere tiefe Wertschätzung verdient.

 

Die Medizin hat verlernt, den ganzen Menschen zu sehen, sie reduziert den Menschen auf das, was sie unter dem Mikroskop und auf dem Röntgenbild sieht. Die Medizin hat nicht begriffen, dass jeder Mensch vollkommen und schön ist, weil jeder Mensch unverwechselbar ist.

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