Bernd Siggelkow Die Arche gibt Kindern eine Lobby, eine Stimme und ein Herz

Bernd Siggelkow: “Die Arche gibt Kindern eine Lobby, eine Stimme und ein Herz.“

Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V., die 1995 von Pastor Bernd Siggelkow in Berlin-Hellersdorf gegründete evangelische Hilfsorganisation, kämpft gegen Kinderarmut in Deutschland.


In 34 Heimen in Deutschland und künftig auch in Afrika kümmern sie sich um Kinder und ihre Familien, wo die staatliche Hilfe einfach nicht mehr ausreicht. Das Hilfswerk musste sich in den vergangenen Jahren schwersten Herausforderungen stellen, die grösste davon war Corona, dann der Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Teuerung, die Migration. Grund genug für Pastor Bernd Siggelkow den akuten Notstand in einem neuen Buch zu beschreiben: In „Das Verbrechen an unseren Kindern" blicken Pastor Bernd Siggelkow und Arche-Pressesprecher Wolfgang Büscherand auf 30 Jahre Die Arche zurück, kritisieren Gesellschaft und Politik, zeigen aber auch, was Engagement bewirken kann. Auch darüber, dass Kinderarmut von Elternarmut kommt. In unserem Interview erklärt Pastor Siggelkow zudem die Statements, die er zur aktuellen Flüchtlingspolitik und deren Folgen gemacht hat.

20. März 2024

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Interview Directory 

IN FOCUS/LEADER

Name: Pastor Bernd Siggelkow

Beruf: Gründer und Betreiber Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V

Derzeitiges Buch: "Das Verbrechen an unseren Kindern“

„Den Menschen fehlt es nicht in erster Linie an Geld, sondern an Perspektive und Würde.“


Herr Siggelkow, was ist das Wichtigste, was Eltern für ihre Kinder tun sollten?


Bernd Siggelkow: Zunächst einmal ist es wichtig, dass es den Eltern selbst gut geht. Die Eltern sind die Vorbilder für ihre Kinder. Wenn sie sich aber selbst aufgegeben haben, weil sie keine Perspektive mehr haben, werden sie auch kein Interesse an ihren Kindern haben. Ich kenne viele Eltern, die auf eine Mahlzeit verzichten, damit ihre Kinder ernährt werden können, weil die Lebensmittelpreise ins Unermessliche gestiegen sind. In erster Linie fehlt es den Menschen nicht an Geld, sondern an Perspektive und Würde. Das soll durch Arbeit vermittelt werden, und so gibt es zum Beispiel weniger Jobs für alleinerziehende Mütter. Wir sind hier in Berlin Marzahn Hellersdorf, dem Bezirk in Deutschland, in dem die meisten Menschen leben, die zusätzlich zu ihrem Gehalt Sozialleistungen beantragen müssen. Eine alleinerziehende Mutter, die 30 Stunden pro Woche arbeitet, kann ihre Familie nicht ernähren und muss Geld beim Jobcenter beantragen. Was macht das mit dieser Mutter, die kein Selbstwertgefühl hat, weil sie immer die Bittstellerin ist? Aber sie will auch ein Vorbild für ihre Kinder sein.


„Irgendwann geben diese Menschen sich selbst auf und irgendwann geben diese Menschen ihre Kinder auf.“


Vor ein paar Monaten saß eine Mutter in meinem Büro und erzählte mir von ihrem subventionierten 9-Euro-Nahverkehrsticket. Bei einer Kontrolle musste sie ihren Ausweis und dann auch noch ihren Bürgergeldbescheid vorzeigen. Sie war entsetzt, dass sie sich vor einem völlig Fremden nackt ausziehen musste, um ihre Bedürftigkeit zu beweisen. Das hat dieser Frau ihre Würde genommen. Irgendwann geben diese Menschen sich selbst auf und irgendwann geben diese Menschen ihre Kinder auf. Kinderarmut ist immer mit Erwachsenenarmut verbunden und es gibt eine unglaubliche Chancenungleichheit in unserer Gesellschaft. 


„Es gab keine Liebe in meinem Leben, nur einen Kampf ums Dasein, weil wir kein Geld hatten."


Wenn Sie auf Ihr Lebenswerk Die Arche zurückblicken, was ist für Sie der Schlüsselmoment der Entscheidung? 


Es gab viele Schlüsselmomente in meinem Leben, die dafür gesorgt haben, dass es heute eine Arche gibt. Da ist zum einen meine eigene Geschichte. Meine Mutter verließ uns, als ich sechs Jahre alt war, und ließ meinen Vater zurück, der eigentlich keine Kinder wollte, und meine Großmutter, die schwer krank war. Es gab keine Liebe in meinem Leben, nur einen Kampf ums Überleben, weil wir kein Geld hatten. Ich wuchs in St. Pauli auf, mein Vater war nie zu Hause und ich musste schon als kleines Kind viel Verantwortung übernehmen. Als ich fünfzehn war, lernte ich die Heilsarmee kennen. Als ich dort Musikunterricht nahm, fragte mich der Pastor, ob ich wüsste, ob es jemanden gäbe, der mich liebt. Ich war völlig am Boden zerstört, weil ich merkte, dass ich nie geliebt worden war. Das war der Ausgangspunkt für The Ark, denn in diesem Moment beschloss ich, Christ zu werden und etwas für Kinder zu tun. Nach meiner kaufmännischen Ausbildung habe ich eine theologische Ausbildung zum Pastor mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit absolviert. Ich kam als Jugendreferent nach Berlin und lernte die Kinder in Marzahn-Hellersdorf kennen. Ihre Lebensbedingungen erschreckten mich - völlig fremde Menschen auf der Straße fragten mich, ob ich ihr Vater sein wolle. Die Arche, die ich daraufhin gegründet habe, sollte nicht nur ein Rettungsanker sein, sondern ihnen auch Liebe und Beziehung geben.


Die Gründung einer so großen Organisation war doch sicher auch mit vielen Opfern verbunden?


Die erste Arche wurde in meinem Wohnzimmer mit 20 Kindern gegründet. Es waren hauptsächlich Kinder aus Familien mit nur einem Elternteil. Ihnen fehlte ein Bezugspunkt, sie hatten Schwierigkeiten in der Schule und mussten mittags hungern. Einige Jahre später gründeten wir die erste Suppenküche für Kinder, weil wir feststellten, dass viele Kinder ohne Frühstück zur Schule gingen, auch weil es zu Hause nicht genug zu essen gab. Noch bevor es in Deutschland einen Armutsbericht gab, war uns klar, dass es Kinderarmut gibt. 


Heute, nach 29 Jahren, sind die Herausforderungen unglaublich gewachsen. Die Kinderarmut hat sich durch mehr Isolation verändert, das Bildungsniveau ist immer schlechter geworden. Wir sind von einer Krise in die nächste geraten. Die größte war Corona, dann der Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Inflation und jetzt der Antisemitismus. 


In Deutschland gibt es jetzt 34 Archen mit Kindern aus vielen verschiedenen Ländern. Jetzt sind auch die Kinder von Flüchtlingsfamilien und Familien mit Migrationshintergrund dazugekommen. Es gibt auch eine Arche in der Schweiz, eine in Polen und jetzt eine in Afrika. Wir sind immer bestrebt, das Beste für unsere Kinder zu erreichen, aber wir stoßen auch an unsere Grenzen, weil die Politik die Rahmenbedingungen nicht richtig verändert. 


„Aber bis heute hat sich kein Politiker zu dem Buch geäußert."


Was fordern Sie konkret?


Wir fordern schon seit vielen Jahren einen grundlegenden Kinderschutz. In Deutschland haben wir dafür gesorgt, dass der Kinderschutz stärker in den Blick genommen wird. Es gibt nur wenige Telefonnummern, die Kinder in Not anrufen können und die kostenlos sind. Unsere Kinder haben in der Regel kein Geld auf ihren Handys. Wenn sie missbraucht würden, wüssten sie nicht einmal, wo sie anrufen könnten.


Zumindest in Berlin haben wir dafür gesorgt, dass es kostenlose Schulspeisungen und kostenlose Nahverkehrstickets gibt. Kinderarmut ist ein Dauerthema in den Medien, weil die Menschen merken, dass arme Kinder keine Randgruppe mehr sind. Die Arche gibt ihnen eine Lobby, eine Stimme und ein Herz. Das Bild, das in der Öffentlichkeit entsteht, übt Druck auf die Politik aus.


Andererseits, nein, denn unser Buch "Das Verbrechen an unseren Kindern" ist eine Anklage gegen die Politik. Bis heute hat sich jedoch kein Politiker zu dem Buch geäußert. Wenn ich ein Gespräch mit einem Politiker führe, muss er mir in vielen Punkten zustimmen. 


Kinder haben kein Stimmrecht und Kinderrechte sind nicht im Grundgesetz verankert. Unser Bildungssystem ist so marode wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind das Land der Dichter und Denker, aber 50.000 Kinder schaffen immer noch keinen Schulabschluss. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen können 25 Prozent aller Viertklässler nicht lesen. Unicef hat errechnet, dass 1 Million arme Kinder es nie aus der Armut schaffen werden. Die Politiker fragen sich, ob die Kindergrundsicherung nur 2 Milliarden oder 12 Milliarden beträgt, wir wissen es nicht genau. Wahrscheinlich werden nur 30 Euro pro Tag und Familie ankommen.


Was fordern Sie noch?


Es gibt nicht genügend Schulplätze, es darf keine Brennpunktschulen geben, es gibt zu viele überlastete Lehrer. Hier muss die Politik ansetzen und helfen, statt Puzzleteile zusammenzusetzen.


„Ich bin aber auch ein Visionär, denn wenn es heute eine Krise gibt, möchte ich morgen die Antwort haben.“


Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?


Es gibt keine Routine, aber ich bin nur so stark wie ich bin, wenn ich mit Kindern zu tun habe. Meine Frau und ich haben Hunde, die wir trainieren, und wir unterrichten derzeit eine zweite Schulklasse. Ich bin natürlich auch ein Verwalter, denn ich leite eine Organisation mit 10.000 Kindern und 360 Mitarbeitern. Die Medien sind auch ein Teil davon. 


Aber ich bin auch ein Visionär, denn wenn es heute eine Krise gibt, möchte ich schon morgen die Antwort haben. Wir sind die Organisation, die immer eine schnelle Lösung hat, weil wir nicht bürokratisiert sind. Wir konnten unsere Organisation nicht schließen, nur weil es eine Sperre gab. Damals mussten wir innerhalb von Stunden eine virtuelle Arche aufbauen. In den ersten 14 Tagen der Abriegelung war unsere Organisation die einzige, die vor den Türen der Menschen stand. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, waren wir das große Versorgungszentrum für die ukrainischen Flüchtlinge. Wir versuchen, alles so schnell wie möglich umzusetzen, und das ist auch ein Teil von mir, das bin ich.


„Wir sind ein Einwanderungsland und das ist auch gut so."


Sie haben auch Aussagen zur Flüchtlingspolitik gemacht, die in den Medien zitiert wurden.


Wir sind ein Einwanderungsland, und das ist auch gut so. Wenn ich einen Menschen in mein Land lasse und ihm Sicherheit, Wohnung und Bildung verspreche, muss ich auch die Infrastruktur haben, um dies zu gewährleisten. Wir haben nicht genug Kita-Plätze, Schulplätze und Wohnraum. Eine unserer Flüchtlingsfamilien hat hier erst nach 8 Jahren Flüchtlingsunterbringung eine Wohnung finden können. Natürlich sollen sie nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden. 


Wir haben 10.000 Kinder in der Arche, was mich 20 Millionen Euro im Jahr kostet. Wir finanzieren alles durch Spenden. Und wenn ich es nicht schaffe, mehr als 20 Millionen Euro aufzubringen, kann ich keine neuen Einrichtungen eröffnen und ich kann nicht mehr Kinder in die Arche aufnehmen, weil ich das Geld nicht zur Verfügung habe. Denn das würde bedeuten, dass ich den Kindern, die sich mir anvertraut haben, weniger zu essen und weniger Möglichkeiten gebe und dass ich irgendwann sogar schließen muss. Als Staat muss man sich überlegen, wozu man fähig ist.


“Der Staat muss darüber nachdenken, wie er den Menschen Sicherheit geben und gleichzeitig ein Land schaffen kann, in dem Kinder kein kalkulierbares Armutsrisiko darstellen."


Wir brauchen 60.000 Fachkräfte pro Jahr, die wir aus dem Ausland holen. Aber 50.000 unserer eigenen Kinder machen keinen Schulabschluss. Warum ermutigen wir sie nicht, die Jobs zu machen, die wir auslagern? Die Geburten in unserem Land gehen zurück, weil wir arme Menschen produzieren. Der Staat muss darüber nachdenken, wie er den Menschen Sicherheit geben und gleichzeitig ein Land schaffen kann, in dem Kinder kein kalkulierbares Armutsrisiko darstellen.

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